Nordwindfestical (c) AES+F - Inverso Mundus

Avantgarde-Kultur aus dem Hohen Norden
Drittes Nordwind-Festival auf Kampnagel

Nach den Nordischen Filmtagen Lübeck ist vor dem Nordwind-Festival Hamburg. Ende des Monats pfeift wieder ein wilder Nordwind durch die Hallen der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel. Das größte deutsche Festival für Darstellende Künste und Musik aus den nordischen Ländern geht in die dritte Runde.

Neben Künstlern aus Skandinavien, Island und dem Baltikum sind diesmal diverse Arbeiten von Kunstschaffenden aus Russland erstmalig dabei, denen der Länderschwerpunkt in diesem Jahr gewidmet ist. Herausragend dürften dabei zwei Ausstellungsprojekte werden. Einerseits die Schau des Kunstprovokateurs und Radikalkünstlers Pjotr Pawlensky aus St. Petersburg, andererseits die Übersichts-Ausstellung Balagan!!! des letztmaligen künstlerischen Leiters der Biennale für junge Kunst in Moskau, David Elliot. Die zweitgenannte Ausstellung in der Vorhalle von Kampnagel versucht, einen Einblick in das große Panorama der russischen Bildenden Kunst zu zeigen. Es werden Foto- und Videoarbeiten von Olga Chernysheva, Anastasia Vepereva, Arsen Savadov und Sergey Bratkov zu sehen sein. 

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Seam (c) Courtesy Pjotr Pawlenski
Ob allerdings Pjotr Pawlensky zu seiner eigenen Ausstellung anwesend sein kann, steht im Moment in den Sternen, denn er wurde gerade für eine seiner drastischen Kunstaktionen in Haft genommen. In Moskau hatte er vor dem Gebäude des russischen Geheimdienstes einen Brand ausgelöst. Bekannt geworden ist der äußerst umstrittene Künstler durch rigorose wie radikale Performance-Aktionen: Er nähte sich den Mund zu, nagelte sich nackt auf dem Roten Platz von Moskau den Hodensack fest oder schnitte sich auf den Mauern des Serbski-Instituts ein Ohrläppchen ab. Kampnagel zeigt weltweit die erste Retrospektive von Pawlenskis Arbeiten in Videos und Dokumenten. 
 
Ein weiterer Aufsehen erregender Künstler ist der Anarchist und Konzeptkünstler Andrey Kuzkin. Für Hamburg ist die 44. seiner Aktionen der Serie 99 Landscapes with trees geplant. Auch er wehrt sich mit radikalen Maßnahmen gegen Vereinnahmung, falschen Interpretationen und künstlerischer Begrenzung. In Hamburg wird er ähnlich wie bereits bei Performances in den Weiten der sibirischen Landschaft oder bei einer Occupy-Demo neben Big Ben in London ein Loch graben, aus dem dann nur sein nackter Unterkörper herausragen wird. 

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Andrej Kuzkin - 99 Landscapes with trees (c) Asya Prazhskaya
Aber auch die anderen teilnehmenden Künstler aus Russland nehmen die Missstände und Probleme, wie den Mord an dem Antifaschisten Timur Katscharawa (das Theaterstück Antikörper aus St. Petersburg), das Antischwulengesetz (Kunstlabor Intimnoje Mesto) oder die Problematik von Asylanten und Flüchtlingen mit ihren Asylanträgen (Translation – Theaterstück von Olga Jitlina) zum Anlass, erschreckende und drastische Einblicke in die russische Realität zu gewähren. 
 
Tanzfreunde werden wieder begeistert sein, dass die isländische Choreografin Erna Omarsdottir und die Iceland Dance Company auch nach Hamburg kommen, um ihr neuestes Stück zu präsentieren. Die erfolgreichste Tänzerin und Choreografin Islands ist bereits das dritte Mal dabei und zeigt ihre Arbeit Black Marrow, ein bildgewaltiges und oft düster-melancholisches Werk, das sie zusammen mit Damien Jalet bereits 2009 in Australien entwickelt und 2015 völlig überarbeitet mit der renommierten Iceland Dance Company aus Reykjavik neu einstudiert hat. Garniert mit einer Prise Humor eines düsteren Bühnenbildes aus Unmengen schwarzer Folie geht es um ein zeitgenössisches Ritual unserer industrialisierten Welt. Ein Tanz ums schwarze Gold, dem Erdöl. Überwältigend und mit rasanten Dynamikwechseln zur sphärischen Musik von Ben Frost.

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Olga Jitlina - Translation
Auch auf die Ohren bekommen die Besucher des Festivals wieder so einiges aus der Ecke Avantgarde, Neue Musik und Experimentelles. Zur letzten Schublade könnte man die Musikperformance und Installation des Kollektivs „Verdensteatret“ aus Oslo zählen. Das 12 köpfige Team und Theaterkollktiv zeigt seine Produktion Bridge over Mud, eine opulente Komposition aus visuellen Eindrücken und Geräuschen, die erstmals in Deutschland gezeigt wird. Musikinstrumente, technische Apparate und filigrane Objekte verschmelzen mit Projektionen und Sounds zu einer elektromechanischen Kaskade für die Sinne, die das Publikum in einen hynotischen Bann ziehen wird.
 
Mit dem Yxus Ensemble aus Estland kommt die wichtigste Formation für Neue Musik aus dem baltischen Land, um seinen größten Musiker und zeitgenössischen Komponisten Arvo Pärt zu ehren. 
 
Aus Schweden kommt die wilde neue Sängerin Anna von Hausswolff, die mit ihrem Orgelspiel und Gesang voller Dramatik, Magie und Düsternis einen Spagat zwischen Kate Bush und den monströsen Drohn-Gewittern der Band Swans hinlegt (2. Dezember, 22 Uhr).
 
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Ludvig Daae & Joanna Nordahl: Hyperfruit
Weitere noch nicht genannte Produktionen aus Norwegen (Blue Motell – Theater), Schweden (Hyperfruit – Performance), Dänemark (Boys don´t cry – Musiktheater) und Finnland (Elina Pirinen – Tanz-Performance) vervollständigen einen oft provokanten, aber auch hoch kreativen Blick auf die vielschichtige zeitgenössische Szene der bildenden Kunst aus unseren nordischen Nachbarländern.
 
Das gesamte Programm, Termine und Eintrittskarten unter Tel.: 040/27094949 oder unter www.kampnagel.de
Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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