Karl Braune
Ein Mann ging durch Lübeck und knipste

Als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, schenkte mir mein Patenonkel ein Buch über das alte Lübeck: "Lübeck so, wie es war". Gar kein besonders gutes Buch, aber doch ein sehr schönes Geschenk, das ich immer noch habe und das schon ganz zerfleddert ist, so oft habe ich darin gelesen.

An diesem Lübeck-Buch war und bin ich einzig und allein wegen seiner dokumentarischen Qualitäten interessiert, denn die Fotos selbst waren gar nicht so großartig, sondern konzentrierten sich auf Spektakuläres und Merkwürdiges wie zum Beispiel eine nachgebaute Kogge, die an der Untertrave auf den Grund gesunken war. Aber es gab noch anderes im Haus, denn wir besaßen eine Mappe mit Schwarzweißfotos („chamois“) eines gewissen Braune. Der Vorname wurde verschwiegen. Der schlichte Titel lautete Lübeck, und die 34 Bilder auf dickem, sehr hochwertigem Papier (so viele jedenfalls befinden sich noch heute in der Mappe) waren vom Verlag Carl Mewes, Lübeck, irgendwann in den dreißiger Jahren wohl noch vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges herausgegeben worden.

Es ist das mittelalterliche Lübeck, das in den Bildern gefeiert wird: Mal sind es Kirchenkanzeln, mal Seitenstraßen mit barocken Fassaden oder Treppengiebeln, und dazu kommen noch einige sehr eindrucksvolle Winterbilder, manche davon in der Nacht aufgenommen. Ein Foto belästigt uns mit Hakenkreuzfahnen in der Königstraße, und das schönste zeigt die Teufelstreppe am Dom mit verschneiten Stufen – es prägte sich mir so stark ein, dass ich Jahrzehnte später, als ich mir endlich ein Stativ angeschafft hatte, es ebenso wie dieser Fotograf zu machen versuchte. Die Teufelstreppe mit ihrer schönen gusseisernen Laterne sollte es sein, ich wollte sie in der Nacht mit dem silbrigen Lichtschein auf den emporsteigenden Stufen ablichten.

Natürlich scheiterte ich kläglich. Und natürlich war ich selber schuld. Denn hätte ich mir Braunes Bild zuvor noch einmal angeschaut, dann hätte ich gesehen, dass auf seinem Foto die Laterne von einem der Mauerbögen verdeckt wird, während ich sie direkt fokussierte. So war sie viel zu hell und überblendete alles. Es ist hier wie auch sonst im Leben: Der Meister zeigt nicht alles, sondern deutet nur an.

Braunes Bild der Teufelstreppe ist schon wegen seiner Stille besonders schön. Auf den Stufen rechts und links und auf dem Handlauf liegt noch Schnee, ebenso wie auf den Mauerbögen, und weiter oben sieht man den Lichtschein auf den dunklen Ziegeln der Kirche, aber eben nicht die Laterne selbst. Es ist ein ganz schlichtes und sehr ruhiges Bild, das von dem Kontrast zwischen Schnee und dunklem Stein bestimmt ist, aber den Betrachter auch in seine Tiefe hineinzieht, denn er sieht sich selbst die Treppe hinaufsteigen und durch den knirschenden Schnee davongehen.

Diese räumliche Tiefe findet sich auf vielen Fotos des schönen Bandes – so gleich auf dem Einband, der den Blick vom Kohlmarkt zum Klingenberg zeigt, ein anderes Mal, als der Fotograf den Kanal auf der Höhe der heutigen Rehderbrücke ablichtete. Wenn das Wetter nicht klar ist, sondern ein wenig diesig, so dass der Blick zwar dem davonlaufenden Ufer folgen kann, sich aber nach einer Weile in der Ferne verliert, dann stellt sich diese Tiefe ein, die den Betrachter von sich weg führt und die Karl Braune so liebte.

Karl Braune (1896-1971) war kein professioneller Fotograf, sondern ein Gerichtsbeamter, der über Jahrzehnte auf der Suche nach schönen Motiven durch Lübeck streifte. Ironisch nannte er sein Fotografieren „Knipsen“, aber ich sehe ihn mit einem Belichtungsmesser in der Hand, wenn ich ihn mir vorstelle: Geknipst hat er bestimmt nicht, denn seine Bilder beweisen, dass er sehr sorgfältig und überlegt gearbeitet hat. Sie imponieren bereits wegen ihrer hohen technischen Qualität, aber viel wichtiger scheint es, dass sie alle durchkomponiert und durchdacht sind. In dem dicken Band, den Jan Zimmermann jetzt im Junius Verlag herausgebracht hat, kann man sich einen Eindruck von einem ernsthaften und begabten Fotografen mit künstlerischem Anspruch und eigener Handschrift verschaffen, und zusätzlich wird man die dokumentarische Qualität vieler Bilder schätzen.

Denn wie vieles ging verloren! Wie schön muss Lübeck einmal gewesen sein! Es sind ja nicht allein die Glanzlichter der gotischen Architektur, die uns in diesem Band begegnen, sondern unscheinbare Straßenszenen mit wenigen Spaziergängern und – ein Traum, den wir wohl nicht mehr erleben werden –: keine Autos! Schon deshalb herrscht überall eine friedliche Atmosphäre jenseits von Hektik.

Es gibt leider auch weniger schöne Dokumentationen – das sind besonders die Bilder nach der Bombennacht von 1942 mit den Turmstümpfen von St. Marien und St. Petri, mit den Fotos der von Steinbrocken übersäten Schmiedestraße oder dem ausgebrannten Hotel Stadt Hamburg, das doch eben erst via Tonio Kröger in die Weltliteratur eingezogen war. Braune wurde in den Jahren nach der Bombennacht offiziell mit den Aufnahmen der Ruinenlandschaft beauftragt, die natürlich der Propaganda dienen sollten. Ja, das perfide Albion … Heute sehen wir derartige Trümmer, wenn die Tagesschau aus Syrien berichtet, aber bei Braunes Bildern denken wir vielleicht trotzdem weniger an die Bomber, als dass wir die Ästhetik der hohläugigen Ruinen mit ihren scharfen Schatten im Sonnenlicht bewundern. Und gleich darauf erschrecken wir beim Anblick einer alptraumhaften Stadtlandschaft, in der das Leben für Jahre sehr, sehr schwer gewesen ist.

Dann Wiederaufbau und Wirtschaftswunder – sehr oft zunächst mit eingeschossigen Gebäuden, und den freien Platz dazwischen wusste man jetzt schon für Parkplätze zu verwenden. Schlau! Wenn man geahnt hätte, zu welchem Alptraum sich der Autoverkehr auswachsen würde, hätte man sich vielleicht klüger verhalten. Oder wünschte man schon damals die heutige Situation und hat sie gezielt herbeigeführt?

Braune besaß eine deutliche Vorliebe für interne Bilderrahmen aus den Zweigen von Bäumen, den Bögen der Rathausarkaden oder der heute leider fast ganz verschwundenen Stadtmauer. Eigentlich alle seine Bilder sind strukturiert, meist vom Gegensatz von Vorder- und Hintergrund. Oh, und er liebte das Gegenlicht oder nasses Kopfsteinpflaster! Und er liebte die Nacht. Viele Bilder sind so schön und auch technisch so hochwertig, dass man sie sich stark vergrößert als Poster an der Wand oder gerahmt hinter Glas vorstellen kann. So präsentiert der Herausgeber unter dem Titel „Fahles Licht“ zwei ungemein stimmungsvolle Fotos vom Petrikirchhof und der Obertrave – in beiden Fällen spielen geschmiedete Gaslaternen eine wesentliche Rolle, die sich in der Dämmerung klar vor dem blassen Himmel abzeichnen. Ja, er konnte es eben … (Und ich versuche es doch noch einmal! Nur weiß ich nicht, wo man heute noch solche schönen Lampen finden kann.)

Aber auch der Herausgeber darf gern gelobt werden. Jan Zimmermann, der im vergangenen Jahr im Behnhaus in und mit einer sehr reich bestückten Ausstellung die Geschichte der Lübecker Fotografen erzählte, hat das Material nicht allein gesichtet und die besten Fotos ausgesucht und knapp, aber sachkundig kommentiert, sondern er musste die Bilder erst einmal für den Druck aufbereiten, also digitalisieren. Mit der Qualität darf der Betrachter mehr als zufrieden sein. Die grobkörnigen Aufnahmen der Anfangsjahre jedenfalls sind nicht Zimmermann anzulasten, sondern haben mit der noch minderwertigen Kamera Braunes zu tun. Später benutzte er besseres Material.

Anders als wir heute gebrauchte Braune niemals extreme Perspektiven, sondern Objektive mit einer dem menschlichen Auge ungefähr entsprechenden Brennweite, so dass es weder Weitwinkel, gar Froschauge, noch die Aufnahmen mit Teleobjektiv und den entsprechenden Verzerrungen zu sehen gibt. Farbaufnahmen finden sich nur wenige, und es sind nicht die schönsten – die Schwarzweißbilder dagegen sind zum Träumen, und manch Hobbyfotograf wird auf seiner Festplatte gucken, ob er seine Bilder nicht doch in Schwarzweißbilder rückverwandelt.

Früher gab es bei Windows das Bild eines Bahnhofs als Eingangsbildschirm. Eine ganz schlichte Aufnahme, und auch sie habe ich nachzumachen versucht – einmal in Hamburg, einmal in Lübeck. Und wieder vergeblich. In diesem Buch nun findet sich ein ganz unglaubliches Farbbild des Bahnsteigs 4 des nächtlichen Lübecker Bahnhofs. Rechts stehen die Doppelstockwagen der Lübeck-Büchener-Eisenbahn, links wartet ein anderer Zug, aber das einmalig Schöne des Bildes ist das nächtliche Licht, das die Halle erfüllt, die Fenster der Züge leuchten lässt und auch auf den Bahnsteig fällt. Kein Mensch ist zu sehen, wirklich niemand, aber in der Mitte zeigen altmodische Schilder, dass es links nach Hamburg geht. Rechts aber auch, und wenn man dann noch einmal genauer hinschaut, dann sieht man eine Dame ganz weit rechts hinten. Gleich wird sie wohl einsteigen. Oder wie wir dem Zug hinterherschauen.

Jan Zimmermann (Hrsg.): Karl Braune. Lübeck und Travemünde. Fotografien 1930-1965, Junius Verlag Hamburg, November 2016, 240 Seiten 

Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe oder online bei Amazon erhältlich.

 

 

 

Stefan Diebitz
Stefan Diebitz
Stefan Diebitz, geboren 1957, freier Autor. Feuilletonistische und wissenschaftliche Arbeiten (Literaturwissenschaft, Philosophie, Kunst- und Kulturgeschichte), dazu vier Bücher: Seelenkleid. Beiträge zur Phänomenologie und Theorie von Angst und Scham (LIT-Verlag 2005); Glanz und Elend der Philosophie (Verlag der blaue Reiter 2007); Spiel und Widerspiel. Der Mensch in seiner Natur (Verlag der blaue Reiter 2009); Leonardos Entdeckung. Eine Philosophie des Ausdrucks (Graue Edition 2012)

Kommentare  

# "Lübeck, so wie es war"Christian P. (04.02.2017, 12:20)
Das Buch habe ich auch geerbt ... sowie 5 Kartons randvoll mit alten Aufnahmen von Lübeck (unklar, ob Originale oder Abzüge) eines LN-Fotografen

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