Agnes Mann (Blanche), Timo Tank (Der General)

Vom Leben in Luftschlössern
Dostojewskis „Der Spieler“ an der Beckergrube

Als jüngste Inszenierung im Schauspiel präsentierte das Theater Lübeck Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs „Der Spieler“ (Premiere: 9. Dez. 2016).

Mirja Biehl, gebürtige Kielerin und, bevor sie sich der Regie widmete, in Lübeck zur Theatermalerin ausgebildet, hat die romanhafte Erzählung zusammen mit der Dramaturgin Anja Sackarendt für die Bühne bearbeitet und als eine turbulente Posse in selbst entworfener Kulisse inszeniert. Ein großer Würfel, Sinnbild des Spiels, steht im Zentrum. Offene oder geschlossene Wände geben vielerlei Ansichten. Auf einer Seite ist die Aufschrift „live or die“ zu erkennen. Die Wände dienen zudem als Projektionsflächen für Schnappschüsse, mit denen die Akteure zeigen, welches Bild sie von dem anderen haben.

Der Text wurde von Dostojewskij 1866 in sehr kurzer Zeit diktiert und von seiner späteren Frau Anna stenografiert. Er wirkt so, wie er aufgezeichnet wurde, knapp und zugespitzt, additiv im Aufbau. Die Figuren sind karikiert und plakativ, durch die Thematik bestimmt. Lange Partien in Wechselrede kommen einer Bühnenbearbeitung entgegen. Zudem nutzt sie den bereits in der Vorlage größtenteils vorgegeben einheitlichen Schauplatz, ein Hotel in einem Ort mit einem Spielkasino, der den verschrobenen Namen Roulettenburg hat. Hotels sind nützlich, führen zwanglos die unterschiedlichsten Personen zusammen. Diese hier eint ihre Spielsucht, die entmenschlichende Gier nach Geld.

Jochen Weichenthal (Alexej), Rachel Behringer (Polina)Jochen Weichenthal (Alexej), Rachel Behringer (Polina)

Auch die Ich-Perspektive ist günstig. So wird zwangsläufig Alexej Iwanowitsch, der fiktive Erzähler, zur Hauptfigur. Jochen Weichenthal verkörpert diesen Alexej geschickt. Geschwätzig und subjektiv kommentiert er das Geschehen oder charakterisiert die Personen, teils wie Klatsch vom Hörensagen her. Immer wieder muss er aus seinem Spiel heraustreten, manchmal verfremdend vor ein Mikrophon treten. Das öffnet entlarvende Blicke in sein eigenes Innenleben, setzt es zudem raffiniert in Kontrast zum Geschehen oder dem Handeln der anderen Figuren, fokussiert auch Zeitumstände. Denn Alexej ist ein Faktotum, muss sich minderwertig fühlen als Russe, über die die Gesellschaft damals sich erhaben fühlte, und als Hauslehrer. In dieser Funktion begleitet er einen angeblich russischen General und einige der Familienmitglieder, darunter dessen jugendliche Stieftochter Polina, die er heimlich liebt. Rachel Behringer kennzeichnet den kühlen, undurchsichtigen Charakter gekonnt und gibt ihr eine hinreißend gute Figur, die noch durch die treffenden Kostüme Katrin Wolfermanns unterstrichen wird.

Robert Brandt (Potapytsch), Astrid Färber (Die Babuschka)Robert Brandt (Potapytsch), Astrid Färber (Die Babuschka)Obwohl in dienstbarer Stellung sind doch andererseits der General, dem Timo Tank genussreich eine groteske Maske gibt, und auch Polina von Alexej abhängig. So setzt er sich über den Dünkel der anderen hinweg und nimmt an ihrem Leben teil. Damit verärgert er nicht nur die Familie, auch die weiteren Personen, die sich in dem Hotel aufhalten. Dazu gehört Blanche, Geliebte des ältlichen Generals, mit der er sich mehr als schicklich beschäftigt. Agnes Mann, die mit dieser Rolle ihr Debut als Ensemblemitglied gibt, spielt diese
vornehme und vermeintlich reiche Französin mit viel Finesse. Sie soll eine weitläufige Cousine von Des Grieux sein, der vorgibt, Marquis zu sein. Auf jeden Fall lebt er in Luftschlössern, die er sich eben noch leisten kann. Jan Byl spielt ihn wunderbar grotesk als Clown seiner eigenen Geltungssucht. Der General und der Möchtegern-Baron umgarnen Blanche, die aber nur an dem Vermögen des jeweiligen „Bewerbers“ interessiert ist oder sich neue sucht, wenn sie dort Geld vermutet. So führt sie auch Alexej in den Ruin. Nur einer zeigt sich anders. Es ist der nun wirklich reiche Engländer Mister Astly. Henning Sembritzki macht aus ihm eine merkwürdig abweisende, dennoch an vielen, vor allem an Polina interessierte Person, dem aber niemand hinter die Sonnenbrillengläser schauen kann.

Und dann ist da noch die Babuschka als reiche Erblasserin, deren herzlich herbeigesehnter Tod die finanziellen Nöte nahezu des gesamten Personals lösen soll. Astrid Färber genießt ihren lebenssprühenden, knallig kostümierten Auftritt, mit dem sie die Hoffnungen aller durchkreuzt. An ihrer Seite hat Robert Brandt eine urkomische Rolle bekommen. In einem eng sitzenden Kostüm stöckelt er als ihr Diener Potapytsch durch die Szene, grandios in seiner Sprachnot, bis sein Frust ihn in seiner „Fuck you“-Rede befreit.

Das Geld hält diese Gesellschaft zusammen. Einer schuldet dem anderen etwas, was er selbst nicht besitzt und durch das Roulette zu gewinnen hofft. Solch ein Gemenge und Beziehungsgeflecht lässt sich nur als Groteske aufziehen, und Mirja Biel tut es zur Genüge. Dass dabei die innere Tragik der Spielsüchtigen, zu denen bekanntlich Dostojewski selbst gehörte, verloren geht, sei hingenommen. Dennoch kippt das Stück in einzelnen Szenen zu sehr in die Klamotte, wenn etwa die Gesellschaft das in die Länge gezogene, kindliche „Kofferpacken“ spielt oder der General im Tutu den sterbenden Schwan mimen muss. Der Applaus war dennoch groß. Das Vergnügliche siegte.

Fotos: Kerstin Schomburg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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