Interview des Ehrenpreisträgers Friðrik-Þór-Friðriksson, Foto: (c) Wolf-Dietrich-Turné

NFL 2022
Friðrik Þór Friðriksson - Resonanz der Stille

„Bei uns ist jeder zweite ein Filmemacher. Wir haben auch mehr Schafe als Menschen.“ – Friðrik Þór Friðriksson.

So ist er. Interviews vor Publikum sind Friðrikssons Lieblingssache nicht. Da muss er durch und tut es mit einem kuschelig bärbeißigen Humor, der manchmal so leicht und elegant vorbeischlendert, dass man ihn erst bemerkt, wenn man schon gestolpert ist.

Der Filmemacher und Pionier der isländischen Filmkunst erhielt den Ehrenpreis der Nordischen Filmtage 2022. Kaum jemandem in der Festival-Geschichte stünde die Auszeichnung besser als ihm. Fünf seiner Filme waren als Hommage erneut bei den Filmtagen '22 zu sehen. Keiner davon hat an Ausdruck verloren. 

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Friðrik Þór Friðriksson zählt zu jenen nordeuropäischen Filmemachern, deren Einfluss auf die moderne internationale Filmkunst nicht mehr wegzudenken ist – Lars von Trier („Breaking The Waves“) etwa, Nicolas Winding Refn („Drive“) oder Roy Andersson („Das jüngste Gewitter“). Nur ganz anders.

Friðriksson hat eine erweiterte cineastische Erzählsprache ins Kino eingebracht; Lichtverhältnisse, Wind, Geräusche der isländischen Natur, kurz: Das Ambiente und was jeweils darin ist, steht als gleichwertiges erzählerisches Element bei den tendenziell kargen Dialogen, ist unmittelbar wirksam im Handlungskontext. Gerade in wortlos blickenden, zagenden Momenten entsteht eine klare, atmosphärisch wie emotional erfahrbare Kommunikation nicht zuletzt mit dem Zuschauer. Eine Art Resonanz der Stille.

Laudator Alexander Bohr und Friðrik Þór Friðriksson während der Eröffnung der 64. Nordischen Filmtage im CineStar, Foto: (c) Olaf MalzahnLaudator Alexander Bohr und Friðrik Þór Friðriksson während der Eröffnung der 64. Nordischen Filmtage im CineStar, Foto: (c) Olaf Malzahn

Von „bildgewaltigem Kino mit einer eigentümlichen mystischen Aura, bizarr, witzig, poetisch, surreal und seltsam bewegend“, spricht Laudator Alexander Bohr (Produzent, „Tabu“ u.a.) bei der Preisverleihung zur Eröffnung der Filmtage im Großen Saal der Lübecker Stadthalle. Übernatürliche Phänomene und die messbare Wirklichkeit in Friðrikssons Filmen sind keine Antipoden, sondern alternative Realitäten, die passieren, ineinander greifen. Dinge, Menschen, Zufälle und andere Umstände erscheinen, verschwinden, machen Töne, üben Einfluss aus, einfach so. Lesbar auch als Plädoyer für das Nicht-Normale und das Lebenlassen. Nein, so Friðriksson nach der Vorführung von „Angels Of The Universe“, er glaube nicht, dass auch nur eine Person im Saal normal sei. Offenes Lächeln.

Streifen

Friðriksson, Autodidakt, hat mal begonnen, was zu einer breitflächigen Filmindustrie wurde und den Namen der Insel weltweit zum cineastischen Begriff werden ließ. 1954 geboren, dreht er seine ersten 8mm-Streifen und 16-mm-Experimentalfilme mit 14 Jahren in der Schule. '73 gründet er zusammen mit Freunden den ersten isländischen Filmklub in einem leerstehenden Kino und bot Klassiker und moderne Kunstfilme an; '78 dann das Reykjavík Filmfestival, das jährlich im Herbst internationale Filme vorstellt und den Edda-Award-vergibt. Erste eigene Arbeiten Friðrikssons wie die Kurzverfilmung der „Brennu-njálssaga“ (1980) und die Musikdoku „Rock in Reykjavík“ (1982) finden Beachtung. Seine Drehbücher entstehen bis heute meist in Zusammenarbeit mit den isländischen Roman- und Lyrik-Schreibern Einar Már Guðmundsson und Einar Kárason. Die drei kennen sich seit der Schule und bilden zusammen mit dem Musiker Hilmar Örn Hilmarsson (ex-Psychic TV) sowie Kameramann Ari Kristinsson ein kongeniales Team.

Filmszene aus 'Children of Nature', (c) icelandicfilmsFilmszene aus 'Children of Nature', (c) icelandicfilms

1987 ruft Friðriksson die Icelandic Film Corporation ins Leben, um die aufblühende isländische Filmszene mit staatlicher Unterstützung zu unterstützen. Im gleichen Jahr gewinnt sein Spielfilm-Debüt „Weiße Wale“ den Publikumspreis der Nordischen Filmtage. Sein zweiter, „Children Of Nature – Eine Reise“ (1991), wird für den Oscar nominiert, holt stattdessen 23 andere internationale Preise und entsprechende Aufmerksamkeit und die finanzielle Grundlage für nächste Projekte.

Children Of Nature – Eine Reise

Der 80-jährige Witwer und Schafzüchter Geiri veräußert seinen Hof, zieht den guten Anzug an und mit ein paar persönliche Sachen zu seiner Tochter und ihrer Familie nach Reykjavík. Doch die Städter und der Landmann passen nicht unter dasselbe Dach im Wohnblock, Geiri wird einem Altersheim überantwortet, wo er seine Jugendliebe wiedertrifft: Stella, eine Person mit deutlichem eigenen Willen, stellt sich was anderes vor als letzte Lebensjahre unter entwürdigenden Regeln im Seniorenabgabeheim. Zusammen brechen sie aus und auf zu einem Roadtrip in eine menschenleere, erinnerungsträchtige Gegend, Ort der Kindheit des neuen alten Paares. Großes Kino auch, wie der geklaute Jeep der zwei flüchtigen Alten schwupp!, in die Unsichtbarkeit entspringt und ein Polizist ungläubig in die entstandene Leere blickt. Lakonischer Neo-Slapstick mit fast absurder Ruhe. Der Saal lacht sich kaputt.

Filmszene aus 'Mamma Gógó', (c) icelandicfilmsFilmszene aus 'Mamma Gógó', (c) icelandicfilms

„'Children Of Nature' ist auf eine Weise meine Liebeserklärung an das Island, in dem ich aufgewachsen bin, eine Gesellschaft, die inzwischen verschwunden ist und über die einige von euch nur durch meinen Film etwas erfahren werden“, so Friðriksson in einer Rede auf der Premierenveranstaltung des Films. Ein Film-im-Film-Moment, denn die Szene ist inszeniert, nicht dokumentiert und zu sehen als Anfangssequenz von Mamma Gógó (2010), dem zehnten Spielfilm des Regisseurs seit '85. Der wird gespielt von Hilmir Snær Guðnason („Lamb“) als 'The Director', ohne Eigennamen, und steht kurz vor dem Bankrott. Kaum wer will „Children Of Nature“ sehen, man harrt und hofft auf die Nominierung des bei der notorischen 'Academy' eingereichten Films. Inzwischen dreht die Bank den Hahn zu, wackeln die Ehe und der Lebensstandard, während die an Alzheimer erkrankte Mutter des Regisseurs, umgeben von liebenden Hilflosen, eigene Wege sucht, um von der Welt zu gehen. Nicht, dass Friðriksson prinzipiell großes Gefühl vermeidet. Es braucht einen Anlass. Hier gibt es einen.

Ein verblüffendes, selbstreflexives Spiel des Regisseurs und eine Tragikomödie, die, zurückhaltend inszeniert, den Menschen und Geschehnissen Raum zur Gestaltung lässt. Kristbjörg Kjeld, isländischer Filmstar mit ca. 30 Filmen seit '62, als Mutter des Regisseurs ist wahrhaft herzzerreißend in ihrer ernsten, kitschfernen Darstellung, die man als solche kaum noch wahrnimmt, so vollständig geht die Schauspielerin in ihrer Rolle auf. Transformation hat viele Gesichter.

Filmszene aus 'Movie Days', (c) icelandicfilmsFilmszene aus 'Movie Days', (c) icelandicfilms

Schonmal ein Rollen-Alter-Ego ausgedacht hatte sich Friðriksson 1994 für Movie Days, die Figur des 10-jährigen Tómas, mit dem er Kindheitserinnerungen an eine Bande von Jungs, Kinobesuche mit seinen Eltern und erste Annäherungen ans Film-Sujet verarbeitet. „King Of Kings“ (1961) von Nicolas Ray, Herbert L. Storcks „The Crawling Hand“ oder ein Western mit Roy Rogers, der Blick des Jungen klebt förmlich an der Leinwand. Eine erste eigene Inszenierung folgt, ein Ritterzug aus Laken, Decken, Stöcken und klapperndem Metallkram aus dem Keller. 

Das neue Wohnviertel der Familie in Reykjavík erscheint in den blässlichen Kolorationspostkartenfarben der frühen '60er, zwischen Autos, toupierten Frisuren, Fußball, Schlips und Kragen und ahnungsarmer Kommunistenhatz im Kalten Krieg. Die Jungs sehen fern durch das Wohnzimmerfenster der einzigen Familie mit einem Fernseher, ein Haus weiter lauscht man einem Hörspiel. Ein Woody-Allen-Zitat womöglich, der mit „Radio Days“ (1987) eine ähnlich verspielte Mischung aus Gesellschaftskomödie, Zeitenwende, Coming of age mit zartbitterer Nostalgie aus den USA der '40er Jahre erzählt hat. Tómas' bebrillter Klassenkumpel überdies, der von der zeternden Lehrerin unter schepperndem Gelächter zum Schulleiter gezerrt wird, weil er statt Milch eine Pepsi zum Frühstück dabei hat, heißt Woodie. Mit „ie“.

Filmszene aus 'Engel des Universums', (c) icelandicfilmsFilmszene aus 'Engel des Universums', (c) icelandicfilms

Ja, so ist er. Friðriksson kann Reminiszenz, er zeigt sich dann. Wenn etwa der geisterhafte Reiter aus einer alten Sage, die Tómas von einem Bauern hört, von Otto Sander dargestellt wird, dann ist das bei Wim-Wenders-Fan Friðriksson ebensowenig Zufall wie Bruno Ganz' Kurzauftritt in „Children Of Nature“. Der, so erinnert sich der Regisseur, ein bisschen auf der Kippe stand damals, denn Ganz sei „... dead drunk the night before“ gewesen, hat es aber doch geschafft. Eine Reminiszenz immer auch an Wenders; seine innovative, sehend machende Art, Umfelder und Landschaft zu filmen und sicht- und fühlbar authentisch wiedergeben zu können, ist ein wichtiges grundlegendes Element von Friðrikssons Arbeit, weiterentwickelt zum Bedeutungsträger.

Ethisch wie strukturell einen ähnlichen Weg wie abermals „Children Of Nature“ geht Engel des Universums (2000), legt lepröse gesellschaftliche Missstände offen, diskutiert sie als Erzählung und wird der nächste große Erfolg des bedächtigen Filmemachers. Paul, locker, selbstbewusst, zwischen 25 und 30, lebt bei seinen Eltern in den Tag hinein, malt, spielt Schlagzeug und erzählt lustige Geschichten. Man mag ihn. Als seine Freundin, die er mit Liebespoesie betört, den Sohn eines Taxifahrers aus Statusgründen verlässt, verliert Paul Balance und Selbstkontrolle und wird unberechenbar gefährlich in einer Welt, die ihm nun fremd ist und feindlich begegnet. Ahnungslos und in der aufrichtigen Hoffnung auf Besserung gibt seine gewissensschwere Familie ihn in die Psychiatrie: Eine Vorhölle mindestens, repressiv, entwürdigend, deren Insassen zwischen Zigarettenrauch, betäubender Medikation und barbarischem Personal vegetieren. „52,3 Prozent der Isländer glauben an das fröhliche Treiben von Elfen und Trollen“, sagt der mutlose Anstaltsdirektor. „Aber die Insassen hier werden wegen ihrer ganz persönlichen Glaubensmodelle und Ansichten isoliert.“

Filmszene aus 'Cold Fever', (c) icelandicfilmsFilmszene aus 'Cold Fever', (c) icelandicfilms

Das Übersinnliche in seiner freundlichen, existenziell positiven Eigenschaft ist nicht mehr identifizierbar, kontaminiert in psychopharmazeutischen Halluzinationen der geistig Erkrankten, ihre Menschenrechte gestaucht und relativiert zwischen Norm, Psychose und einem handwarmen Entsorgungskonsens der Gesellschaft da draußen. Ein Film, mit dem 25 Jahre nach Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“ das Hybrid eines Anti-Psychiatrie-Plädoyers gelingt, das als gesellschaftliche Metapher für den maroden Seelenzustand eines Landes taugt. Ton und Kamera setzen den Zuschauer nächstmöglich neben die verfallenden Insassen, bis es blutet und zu riechen scheint, ohne einen effektheischenden Betroffenheitsbuster zusammenzuknattern. Der Umgang mit Überblendungen, anthrazit schimmernden Schatten u. a. visuellen Tricks ist auf die Aussage fokussiert. Film, Kunst. In jedem Moment glaubwürdig, nicht zuletzt durch Ingvar Eggert Sigurðssons („Weißer weißer Tag“, „Reykjavik – Rotterdam“) Darstellung des Paul. Ein paar lustige Sekunden trösten kurz, und ein kluger, anarchisch komödischer Abschnitt ist von einer befreienden Kaputtheit, die ihresgleichen sucht. „Engel des Universums“ hat in Island Diskussionen über die Psychiatrie sowie politisches Handeln ausgelöst, das zu real existierenden Verbesserungen geführt hat. Nicht genug, findet Friðriksson, aber immerhin ein Anfang.

Aus der Hand

Friðrik Þór Friðriksson während der Eröffnung der 64. Nordischen Filmtage, Foto: (c) Olaf MalzahnFriðrik Þór Friðriksson während der Eröffnung der 64. Nordischen Filmtage, Foto: (c) Olaf MalzahnSchlüssig und perfekt als Einstieg in Friðriksson Filmkunst und seine Insel sowie stabiler Favorit vieler 'Fridrikssonier' ist Cold Fever (1995). Beladen mit der Pflicht, die traditionellen Abschiedsrituale für seine im Island-Urlaub tödlich verunglückten Eltern zu vollziehen, schickt Friðriksson den japanischen Yuppie Hirata, gespielt vom japanischen Film- und Popstar Masatoshi Nagase (in Gastrollen auch in den Jim-Jarmusch-Filmen „Mystery Train“ und „Night On Earth“), in ein Roadmovie durch Wind- und Schneemassen dieses „very strange country“. Ein beknacktes, schussfertiges US-Anhalterpärchen, gespielt von Fisher Stevens („Nummer 5 lebt“) und Lily Taylor („I Shot Andy Warhol“), schmeißt ihn aus dem Auto. Eine junge Elfe mit Pokerface, die ihm den Weg weist und puff!, verschwunden ist, dann ein Isländer bei einem dörflichen Fest mit zwei Flaschen Schnaps namens Black Death, helfen ihm. Durch die Augen des Fremden zeigt Friðriksson seine Heimat und zieht den geneigten Zuschauer mit ins Herz des isländischen Winters und in die Perspektive des unfreiwilligen japanischen Touristen, wie er taumelt und stapft, sich verläuft und selbst findet. Die japanischen Abschiedsrituale schließlich und wie er sie versieht in den fremden Licht- und Landschaftsverhältnissen, ist von einer einfachen, versöhnlichen Schönheit. 

„So, what's next?“, erkundigt sich der Moderator nach der Vorführung und der letzten Publikumsfrage beim Regisseur nach Projekten und Plänen. Friðrik Þór Friðriksson lächelt eine Kunstpause lang, und antwortet: „Another stupid interview.“ Legt das Mikro aus der Hand, während er unter Applaus nickend das Kino verlässt.

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Web:

Alexander Bohr: „Der Blick des Wikingers – Das magische Kino des Fridrik Thor Fridriksson“ (Doku, 1999)

Icelandic Film Corporation

Einar Kárason

Einar Már Gudmundsson:

Hilmar Örn Hilmarsson:

Ari Kristinsson

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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