Solistin Violine: Viktoria Mullova, Foto: (c) Hildegard Przybyla

4. Sinfoniekonzert in der MuK
Die Lübecker Philharmoniker zum Jahresschluss mit großartiger Sinfonik

Die Lübecker Philharmoniker haben es sich in ihrem 4. Sinfoniekonzert nicht leicht gemacht. Die zwei Werke, anfangs Dmitri Schostakowitschs erregende 1. Violinkonzert in a-Moll und im zweiten Teil die klangmächtige 1. Sinfonie von Gustav Mahler in D-Dur, der der Komponist den Beinamen „Titan“ gab, fordern alle heraus, die Interpreten und die Zuhörer. Eine Woche vor Weihnachten sind diese Werke kein friedliches Vorbereiten auf eine Zeit, das den Christen immer noch als ihr höchstes Fest gilt. Es ist eher eines mit einem Programm, das nachdenklich macht, das wegführt von der Illusion von Friede und Freude. Es brachte eine andere Botschaft.

Vor allem im ersten Teil, der sich mit Ohnmacht und Aufbegehren auseinandersetzt, wurde das deutlich. Denn trotz des kontrastiven optischen Auftritts von Solistin und Orchester, die Violinistin im roten Hosenanzug mit Braun in Haarfarbe, Gürtel und Schuhen und das Orchester im klassischen Schwarz, steckten weit brutalere Farben in dem, was beide miteinander musizierten. Schostakowitsch hatte hier wie häufig in seinen Werken sich den Frust über sein persönliches Leid, das ihm die politische Situation brachte, wegkomponiert, drastisch und nichts beschönigend. Und der Solistin muss dieses Werk in seinem nachdrücklichen und ehrlichen Ton bei jeder Aufführung Persönliches in die Seele rufen. Es war Viktoria Mullova, eine der russischen Künstler, die ihre Heimat fluchtartig verließen. 1983 war es, als ein Journalist ihr das Entkommen ermöglichte. Über ihr und Schostakowitschs Schicksal nachzulesen lohnt sich.

Düster, wie in bedrohender Dunkelheit hebt das Orchester im ersten, als „Nocturne“ bezeichneten Satz an, bevor die Solostimme sich dem zu widersetzen sucht. Die melodischen Wendungen und Farben der Instrumente, die der Komponist dafür gefunden hat, fängt die Diskrepanz markant ein. Wenige Momente mögen Beistand geben, wenn etwa die Celesta oder die Harfe für lichte Sekunden sorgt, bevor das Bedrohliche oder das Andere sie immer wieder zu ungewollten Wendungen zwingt. Es ist höchste Dramatik, die Schostakowitsch allerdings in ganz ruhiger Art zeichnet. Gegensätzlich dazu folgt der sarkastisch und groteske zweite Satz, der ein anderes Element bringt, das der Komponist immer wieder musikalisch formuliert hat. Es ist der unmenschliche Antisemitismus, der als Doktrin von der damaligen sozialistischen Politik gefordert wurde. Vor allem in diesem Satz und im letzten erinnern einige Momente an Jüdisches, wenn man zum Beispiel Synagogen-Gesang hört, wenn ein Tanz erklingt, den man in seiner Intensität eindeutig zuordnet, oder wenn die Klarinette eine Klezmer-Melodie anstimmt. All das umspielt die Geige, kommentiert es oder lässt sich einfangen.

Solistin Violine: Viktoria Mullova, Dirigent Stefan Vladar, Foto: (c) Hildegard PrzybylaSolistin Violine: Viktoria Mullova, Dirigent Stefan Vladar, Foto: (c) Hildegard Przybyla

Die Musik ist auffallend vielschichtig und in ihrer virtuosen Gestaltung für die Solistin, aber kaum weniger für das Orchester eine Herausforderung, eine, die das Publikum fesselt. Sie hat eine wundersam komplexe ästhetische Kraft und kündet zugleich genial von den inneren Zuständen und Vorstellungen des Komponisten. Kaum war der letzte Ton verklungen, klang lautstark ein Bravo durch den Raum. Für den begeisterten und bis zum Fußgetrampel heftigen Applaus bedankte sich die Solistin im Montagskonzert mit einem Andante, dem dritten Satz aus Bachs zweiter Violinsonate.

Nach der Pause folgte dann ein ebenfalls ungewöhnliches, trotz seiner inneren Verflechtungen dennoch leichter zu erfassendes Werk. Gustav Mahler malt in großen Strichen und gewaltigen Bögen das, was nur er in großen Formen so auszudrücken vermochte. Diese Sinfonie war die erste, die er „Titan“ nannte. Fühlte er sich mit diesem Werk als Komponist dem ältesten Göttergeschlecht der Griechen zugehörig? Hat er den Namen deshalb zurückgezogen, weil die folgenden noch titanischer, noch komplexer, noch ausgedehnter wurden? Auf jeden Fall zeigt diese Sinfonie schon, wie in sie Themen aus seinem eigenen Schaffen wie auch Momente aus der Volksmusik und der Trivialmusik eingewoben sind. Aber sie alle gewinnen erst durch die Gestaltung Gewicht.

Dies zu entdecken und darzustellen ist eine riesige Aufgabe, die der Dirigent zusammen mit dem Orchester zu leisten hatte. Stefan Vladar schien vor allem, die grandiosen Übergänge zwischen den Satzteilen im Auge zu haben. Sie waren insgesamt äußerst sorgsam gestaltete. Da stehen immer wieder naturidyllische Szenen im Raum neben dramatisch verwobenen. Gleich der Anfang gelingt, wie dort sich alles wie aus einem Urgrund erhebt, wie sorgsam später Flöten den Vogelsang imitieren, in aller Selbstvergessenheit und Ruhe, und sich alles zu einem Naturbild vereint. Im zweiten Satz hört man genüsslich schwingende Walzer mit süffigem Klang der Violinen. Im dritten Satz wird eine simple Kanon-Melodie wunderbar fein vom sordinierten Kontrabass (Stanislav Efaev) vorgestellt. Wer ahnt, welche Ausdruckskraft sie entwickelt? Genussvoll lauscht man dem kleinen, aber wirksamen Effekt nach, wenn die indifferenten Schläge des Gongs den Klang der anderen Instrumente zart umhüllen und tragen (Nana Fukuzato). Mahler wusste, welche Klangfarben er haben wollte, die Lübecker Sinfoniker wussten, wie man sie erschafft. Auch das überzeugt, wenn die Hörner, häufig im Geschehen zu hören, im letzten Satz zu einer grandiosen Kraftquelle werden, wie sie alles klanglich überstrahlen.

Solistin Violine: Viktoria Mullova, Foto: (c) Hildegard PrzybylaSolistin Violine: Viktoria Mullova, Foto: (c) Hildegard Przybyla

Vladar fand für die großen Entwicklungen den Weg, sie schlüssig zu entfalten. Seine Musiker ließen sich führen und fesselten selbst in kleinsten Momenten. Zusammen begeisterten sie das Publikum, darunter auch erfreulich viele junge Hörer. In ihrer Manier, mit Kreischen das auszudrücken, übertrafen sie in der Lautstärke das stark erweiterte Orchester.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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